By Wiebke Flegel
 

Es ist vier Uhr nachmittags. Oder ist es schon fünf? Keine Ahnung. Ist auch nicht wichtig hier. Alle gucken versonnen in die Tunnel ihrer Biergläser. Kein Kunde in Sicht, der Lust auf Hochseeangeln hätte. Zum Mann-gegen-Marlin-Match für echte Kerle, draussen am Riff, wo jetzt nur ein paar Pelikane auf den Wellen dösen. Ein warmer Wind streicht um die Bar und bleibt im Strohdach hängen. Bob Marley, wie apropos ist das, singt 'Coming in from the Cold'.

Ernest Hemingway hätte das gemocht. Enklaven wie die Schooner Wharf Bar, wo die Zeit seit den dreissiger Jahren, als Amerikas talentiertester Säufer hier Weltliteratur produzierte, stehengeblieben zu sein scheint, gibt es noch immer in Key West. Es gibt Straßen, auf denen Hühner und Katzen herumstreunen und hin und wieder von knatternden Mopeds in die Bougainvilleen gescheucht werden. Es gibt schöne Häuser mit weitläufigen Veranden, auf denen die Hiesigen in Hängematten dösen. Es gibt Hinterhöfe mit wild wuchernden Paradiese aus Kokospalmen, Ylang-Ylang und Jacaranda, in denen bunte Vögel hin und her sausen und wo lächelnde Menschen, die sich nach einer hiesigen Muschelart 'Conchs' nennen, sagen, sie seien im Paradies.

Gibt´s alles noch in Key West. Trotz der Duval Street, der Hauptverkehrsachse von Key West und lärmenden Partyzone. Denn Hemingway´s Key West hat sich in einer von tropischem Dickicht eingemauerten Parallelwelt eingeigelt. Allein dass es sie gibt, ist ganz erstaunlich: Amerika´s berühmteste Koralleninsel ist nur zwei mal vier Meilen groß, wird  von 25 000 Menschen bewohnt und von mehr als vier Millionen Touristen jährlich heimgesucht. Das Rezept der Conchs? 'Ich habe wirklich keine Ahnung, was da drüben los ist', versichert die Rezeptionistin im Avalon B&B und nickt Richtung Mallory Square. Das Avalon, eine hübsche pastelfarbene Herberge, liegt auf der ruhigen Seite von Key West. Zum Mallory Square sind es von hier aus zu Fuß keine 20 Minuten. Dort sei sie seit Jahren nicht mehr dagewesen, sagt die Frau. Zu voll, zu laut, und überhaupt, sie habe auch gar keine Zeit. 'Nach Feierabend besuchen wir einander in unseren Gärten', sagt sie. Und erzählt von Daiquiris in der Hängematte, herrenlos durch die Hinterhöfe streunenden Hühnern und der schönsten Zeit des Tages, wenn das Licht der untergehenden Sonne noch eine Weile in den Palmwedeln hängt und Mücken im gelben Licht tanzen.

So wie ihr Garten habe sich früher ganz Key West angefühlt. Der Insel-Lingo meint damit die Zeit vor dem Massentourismus. Dass das alte Key West überleben konnte, mag auch an dem überall wuchernden Tropendickicht liegen. Undurchdringlich und betäubend, hält es selbst die Sorge über die explodierenden Lebenshaltungskosten außen vor - die meisten Insulaner arbeiten in zwei, drei Jobs, um ihre Rechnungen bezahlen zu können. Heute  begegnet man der alten Zeit,  sobald man den Mallory Square verläßt. Sofort hängt Jasminduft schwer in der Luft. Irgendwo quietscht eine Tür. Ein Hahn kräht. Hier verstecken sich jene hemingwayesken Oasen, denen Key West sein Image verdankt. Oder könnte man sich das freitagnachts im Restaurant Turtle Kraals stattfindende Schildkrötenrennen auch in Miami vorstellen? Oder den Chicken Store mitten in Tampa? Würde man in Palm Beach ebenso leicht Menschen wie Nancy Forrester treffen? Nancy Forrester´s Secret Garden, ein 4000 Quadratmeter großer Regenwald an der Elizabeth Street, ist das Resultat ihres unermüdliches Kampfes gegen die Zubetonierung ihrer Insel. Und wie Hemingway vor 60 Jahren essen und trinken kann man im Bahama Village, dem historischen Schwarzenviertel von Key West. Wie frischen Kokoskuchen in Henrietta´s The Art of Baking, einer kleinen Bäckerei an der Petronia Street. Oder Shrimps und Key Lime Pie, die berühmte Limettentorte, im Blue Heaven Restaurant, wo Hemingway einst Hahnenkämpfen zusah und Katzen und Hühner bis heute zum charmant verlotterten Inventar gehören.

In der Schooner Wharf Bar geht der Barkeeper ein wenig in die Knie. Dann kneift er ein Auge zusammen, peilt über den Zapfhahn den Stand der Sonne und sagt 'Zwanzig vor fünf'. Dabei verzieht er das Gesicht, als habe jemand ein Glas Milch bestellt.. Ja, ein paar Enklaven des alten Key West gibt es noch. Und sie leisten Widerstand. Nicht mit Graffitti und schlagzeilenträchtigen Protestaktionen, sondern mit dieser berühmten Leichtigkeit, die hier 'key spirit' heißt und den Besucher einlullt, sobald er die Duval Street verläßt und sich einfach treiben läßt. Dann stößt er fast zwangsläufig auf Perlen wie Nancy Forrester´s Urwald. Oder auf diese aus Treibgut zusammengestellte Bar. Wo er auch politisch Un-Korrektes vom Mann hinter der Theke hört. Wie zum Beispiel, dass nur mit Fidel Castros Hilfe alles wieder so werden könne wie früher. Wie das? Der Barkeeper lächelt listig und gießt Rum über die Eiswürfel. “Wenn Fidel stirbt, werden unsere Fähren nur so nach Havanna rasen und Key West links liegen lassen.” Ob er das gut oder schlecht findet, behält er für sich. Über den Gläsern steigen knisternd kleine Kältewolken auf. Nur eines ist sicher: Eine Revolution wird es auf dieser Seite nicht geben.

Autor: Ole Helmhausen

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